„Jetzt mal ehrlich…“
Oliver Welke rückt in der Tagesshow seine Krawatte gerade, beugt sich verdächtig weit nach vorn und seine Stimme wird leiser. „Also – jetzt mal ehrlich…“ Jeder von Euch kennt diese Situation auch aus Briefings und anderen Gesprächsrunden – egal ob ihr Euch wie ich mit Eventplanung auseinandersetzt oder in ganz anderen Themenwelten lebt. Bei Olli Welke ist klar: In der Regel kommt es nun ganz dicke. Da ist es wieder. Mir fällt auf, dass mir diese drei Worte auch im Alltag oft begegnen – und zwar im privaten Gespräch wie auch im Business. Im Privaten höre ich sie immer wieder mal von netten Leuten, die nun wirklich nichts Böses dabei denken.
Wie ehrlich sind wir?
„Jetzt mal ehrlich – die Brille kann ich doch gut tragen, oder?“ Wenn ich den Satz wörtlich nähme, würde ich zurückfragen: „War das vorher Gesagte denn weniger ehrlich?“ Oder: „Jetzt mal ehrlich – unterstellst Du mir, dass ich normalerweise nicht aufrichtig bin? So ist das unter Freunden natürlich gar nicht gemeint.
Wie ist dies aber einzuordnen, wenn es im Gespräch um die Planung einer Konferenz, eines Motivationstrainings oder einer Jubiläumsveranstaltung handelt? Ist das „jetzt mal ehrlich“ nicht etwas anderes, wenn wir Anlässe planen, bei denen sich Menschen bewusst und auf Augenhöhe treffen – Menschen, die einander noch etwas zu sagen haben? Wie oft soll ich es lässig überhören, wenn ein Geschäftspartner diese Floskel so häufig benutzt, dass es mir auffällt? Ja, es gibt Menschen, die sie auffällig oft verwenden. Immer dann, wenn sie am Tisch vertrauensvoll näher rücken, wenn es also ums Wesentliche geht, beginnen sie mit „jetzt mal ehrlich“ oder – mindestens ebenso erhebend – mit „jetzt mal im Ernst“. Spätestens nach dem dritten Mal tritt bei mir genau dieser Ernst in den Hintergrund.
Alltags-, Talk- und Businessgespräche
Vielleicht sollten wir die drei Worte im Alltag besser vermeiden. Wir sollten sie einem Ermittler überlassen für Gelegenheiten, bei denen der Satz dann ungefähr so weitergeht: „Jetzt mal ehrlich – Sie waren doch in jener Nacht am Tatort, Sie haben den Ermordeten gehasst, und Sie haben große Geldsorgen?“ Da passen die drei einleitenden Worte nämlich ganz gut.
Bin ich wirklich zu empfindlich, zu sprachempfindlich? Oder doch nur psychologisch unbedarft? So betrachtet könnte das „Jetzt mal ehrlich“ natürlich einfach eine umgangssprachlich-lockere Aufforderung sein, die Karten auf den Tisch zu legen und frei heraus zu reden, wie uns der Schnabel eben gewachsen ist. So würde ein Schuh daraus – ich habe eh immer häufiger den Eindruck dass es für viele Gesprächspartner eher nicht üblich ist, einfach direkt zu sagen, was sie wollen, was sie wirklich denken, was sie wirklich meinen und was sie sich wünschen.
Soweit zu „könnte“ und „würde“ – schnell zurück zur Realität: Die drei Worte stören mich immer dann, wenn ich sie von Leuten höre, mit denen ich eben nicht auf locker-launigem Kumpelfuß stehe, sondern in einem korrekten, zum Beispiel geschäftlichen Verhältnis. Und dieses lebt ganz wesentlich davon, dass man sich nicht ständig plump gegenseitig dazu auffordern muss, doch endlich mal die Wahrheit zu sagen.
Zu den meisten Zeitgenossen stehen wir Menschen ja eher in mittlerem Abstand zwischen Umarmung und Distanz. Genau dieser mittlere Abstand setzt aber Maß und Mitte im Tonfall voraus. Da klingt es schon schief und schräg, wenn man einander zur Ehrlichkeit aufruft – ob nun bewusst oder unbewusst.
Beste & herzliche Grüße
Maik Herrmann